Analyse & Kritik

Journal of Philosophy and Social Theory

Soziobiologie


1994 (16) Issue 1

Editorial

Die Soziobiologie überschneidet sich in ihrem Gegenstandsbereich mit der Soziologie. Damit ist Konkurrenz, aber auch gegenseitige Ergänzung möglich. Die Tatsache, daß sich die Soziobiologie mit den genetischen Grundlagen menschlichen Verhaltens beschäftigt, hat allerdings das Verhältnis eher als ein ausschließendes Konkurrenzverhältnis erscheinen lassen - vor allem in der Sicht der Vertreter der traditionellen Soziologie. Sie haben diese Konkurrenz häufig nicht nur als eine wissenschaftliche, sondern auch als eine weltanschauliche verstanden. Die Soziobiologie wurde eines biologischen Determinismus verdächtigt, der die Beeinflußbarkeit des Menschen durch die Institutionen der Gesellschaft und der Moral leugne. Die Heranziehung verhaltensbiologischer Erkenntnisse zur Erklärung menschlichen Verhaltens wurde mit dem Versuch einer normativen Rechtfertigung der so erklärten Verhaltensweisen gleichgesetzt. Die Aufsätze in diesem Heft verdeutlichen, daß diese Vorwürfe unberechtigt sind. Sie machen klar, daß die Aufklärung der genetischen Grundlagen menschlichen Verhaltens mitnichten zu einem naturalistischen Fehlschluß auf moralische oder soziale Normen zwingt. Die Verhaltensflexibilität des Menschen ist selber ein soziobiologisch erklärbares Ergebnis der natürlichen Selektion. Soziobiologische Theorien ermöglichen uns aber, wichtige empirische Restriktionen und Randbedingungen einer Beeinflussung menschlichen Verhaltens zu berücksichtigen: Moral ohne Kenntnisse über die Natur des Menschen ist blind. Die traditionelle Soziologie kann deshalb der wissenschaftlichen Konkurrenz mit soziobiologischen Theorien nicht durch Verlagerung auf weltanschauliche Kontroversen ausweichen. Sie muß sich den alternativen Erklärungsansätzen in einem offenen Wettbewerb stellen. Dies geschieht im deutschsprachigen Raum noch viel zu selten. Durch Totschweigen oder Verleumden wissenschaftlicher Alternativen ist aber Erkennntnisfortschritt noch nie gefördert worden - und daß die Erklärungsleistungen der Soziobiologie in der Tat eine ernsthafte Herausforderung darstellen, machen die nachfolgenden Aufsätze ebenfalls klar. Doch enthalten soziobiologische Theorien durchaus auch Anschlußmöglichkeiten für die herkömmliche Soziologie. Soziobiologische Theorien sind Theorien über die menschliche Natur. Ohne die ungerechtfertigte Scheu, die viele Soziologen vor einer Beschäftigung mit Theorien über die menschliche Natur haben, erkennt man, daß solche Theorien traditionelle soziologische Theorien sinnvoll ergänzen können. Das gilt vor allem für die Frage nach dem grundlegenden soziologischen Verhaltensmodell. Es spricht vieles dafür, daß die Kontroversen über ein solches Modell ohne Annahmen über fundamentale Eigenschaften der menschlichen Natur nicht entschieden werden können. So wäre etwa der 'tabula-rasa-Mensch', der im Sinne des Modells des Homo sociologicus ausschließlich gesellschaftlich determiniert ist, ein höchst unwahrscheinliches Ergebnis der natürlichen Evolution. Das vorliegende Heft will einen Beitrag zu einer vorurteilsfreien Auseinandersetzung mit soziobiologischen Ansätzen leisten. Dabei stehen nicht allgemeine Überlegungen über Sinn und Unsinn der Soziobiologie im Vordergrund, sondern konkrete Anwendungen soziobiologischer Theorien.

Der einleitende Artikel von Hartmut Kliemt erläutert, in welchem Sinne die soziobiologische Erneuerung der evolutionären Sichtweise menschlichen Verbaltens als eine Rückbesinnung auf die ursprünglichen Überlegungen Darwins verstanden werden kann. Der Autor plädiert nachdrücklich dafür, die soziobiologischen Erkenntnisse nicht zu vernachlässigen und Alleinvertretungsansprüche anderer Disziplinen abzuwehren.

Laura Betzig skizziert in ihrem Beitrag eine soziobiologische Erklärung politischer Hierarchien und Herrschaftssysteme. Politischer Wettbewerb ist in dieser Sichtweise immer auch ein Wettbewerb um Reproduktionsvorteile. Es werden Bedingungen untersucht, die unter diesem Gesichtspunkt einem Übergang von der Despotie zur Demokratie förderlich sind.

Geschlechtsspezifische menschliche Verhaltensdispositionen sind der Gegenstand des Aufsatzes von Bobbi S. Low. Unterschiedliche Optimierungsbedingungen weiblicher und männlicher Reproduktionsstrategien machen die Entstehung unterschiedlicher Verhaltensanlagen wahrscheinlich. Die Kenntnis dieser Dispositionen kettet uns jedoch nicht an unsere Naturgeschichte, sondern zeigt Anknüpfungspunkte für gezielte Maßnahmen der Verhaltensänderung.

Geschlechtsspezifische Verhaltensneigungen stehen auch im Mittelpunkt der Überlegungen von Randy Thornhill. Er erörtert unterschiedliche Erklärungsansätze für das Phänomen der Vergewaltigung und zeigt, wie evolutionstheoretische Erwägungen helfen können, zwischen den alternativen Ansätzen zu entscheiden.

In ähnlicher Weise zieht Jörg Klein den evolutionstheoretischen Ansatz heran, um verschiedene Theorien des Inzest zu bewerten. Er diskutiert Implikationen, die sich für die aktuellen Kontroversen über Kindesmißbrauch durch Familienangehörige ergeben.

Der Aufsatz von Paul Winkler greift schließlich noch einmal die grundsätzlichen Vorzüge und Grenzen des evolutionsbiologischen Ansatzes am Beispiel der Erklärung der Fremdenfeindlichkeit auf. Die vorsichtige Abwägung in diesem Beitrag macht besonders deutlich, wie ungerechtfertigt das Vorurteil ist, daß man in der Soziobiologie generell dazu neige, aus biologischen Fakten normative Schlüsse zu ziehen.

Edgar Dahl hat bei der Zusammenstellung und Herausgabe des vorliegenden Heftes wesentlich mitgewirkt.

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Table of Contents

Title: Der avancierte Affe. Zur Rolle soziobiologischer und philosophischer Theorien über die menschliche Natur
Author: Hartmut Kliemt
Page: 3-19

Abstract: In this article sociobiology is ,put into perspective,, from a history of ideas and a systematical point of view. It is argued that it would be foolish to regard biology as irrelevant to our concept of man and society. At the same time it would be grossly inadequate too to ignore the characteristics of human kind.

Title: The Point of Politics
Author: Laura Betzig
Page: 20-37

Abstract: Why do men and women compete? And what makes them compete more or less? An answer to the first question follows directly from Darwin. If Homo sapiens, like other species, is a product of natural selection, then we should have evolved to compete in order to reproduce. An answer to the second question follows from more recent versions of Darwinism. People, like other organisms, are likely to compete socially - to form dominance hierarchies - to the extent that it is costly for subordinates to flee ecologically. This paper first reviews evidence that winners at political competition have consistently won at reproductive competition. Next, it documents the slow shift toward declining political competition - toward democracy, and toward declining reproductive competition - toward monogamy, in the course of Western history. Last, it offers a model of what might account for that change.

Title: Human Sex Differences in Behavioral Ecological Perspective
Author: Bobbi S. Low
Page: 38-67

Abstract: Behavioral ecology, based in the theory of natural selection, predicts that certain behaviors are likely to differ consistently between the sexes in humans as well as other species: aggression, resource striving, information content of sexual signalling. These differences, though of course open to modification by cultural practice, arise because male and female humans, like males and females of other mammal species, typically optimize their reproductive lifetimes through different behaviors: males specializing in mating effort (which has a high fixed cost, and is not offspring-specific), and females in parental effort (which has more linear reproductive returns, and is offspring-specific). The resulting patterns are reviewed.

Title: Is There Psychological Adaptation to Rape?
Author: Randy Thornhill
Page: 68-85

Abstract: Psychological adaptation underlies all human behavior. Thus, rape could either arise from a rape-specific psychological adaptation or it could be a side-effect of a more general psychological adaptation not directly related to rape. The rape-specific hypothesis and the incidental effect hypothesis are explained. Determinig the specific environmental cues that men's sexual psyche has been designed by selection to process will allow us to decide which of these two hypotheses is true. I focus on rape, and briefly look at other types of sexual coercion, such as sexual harassment and incest.

Title: Die biologischen Wurzeln des Inzestverbots
Author: Jörg Klein
Page: 86-100

Abstract: Does an inclination towards incest exist and why is incest prohibited? There are mainly two points of view: that of Sigmund Freud, the founder of psychoanalysis, and that of Edward Westermarck, a Finnish-British anthropologist. Freud is of the opinion that men have a profound desire for incest, whereas Westermarck presumes an instinctive aversion against it. Nowadays the discussion has received fresh impulse due to a modern interpretation of Westermarck's theory and the controversy over the sexual abuse of children in their families. The author is in favour of the Westermarck theory and tries to explain the prohibition of incest based on a natural inhibition towards incest.

Title: Fremdenfeindlichkeit aus der Sicht der Evolutionsbiologie
Author: Paul Winkler
Page: 101-115

Abstract: Evolutionary biology tries to explain the adaptability of different traits including social behaviour. However, it does not and cannot say anything about what is 'good' or 'bad' behaviour. If scientists try to do so they risk being put into the same category as ideologists and political demagogues. Evolutionary biology can tell us something about the phylogeny of certain types of behaviour including xenophobia. It can describe which constraints can lead to the outbreak of such behaviour, without thereby legitimating this behaviour.