Analyse & Kritik

Journal of Philosophy and Social Theory

Liberalismus


1992 (14) Issue 1

Editorial

Wenn es für westliche Gesellschaften nach dem Zusammenbruch politischer Utopien und sozialer Heilslehren noch ein vereinigendes Selbstverständnis gibt, dann dasjenige des Liberalismus. Gemäß der liberalen Doktrin der Eindämmung politischer Macht zugunsten individueller Freiheit sollen wirksam garantierte Bürgerrechte kulturelle und weltanschauliche Differenzen dem privaten Lebensbereich überantworten und so politisch neutralisieren. Die Trennung privater und öffentlicher Sphären erscheint als die einzig angemessene Antwort auf die Erosion von Gemeinschaftsideologien und die Auflösung traditioneller Sozialstrukturen. In diesem Jahrhundert wurde der liberale Kerngedanke einer Zähmung staatlicher Herrschaft durch ein System öffentlicher Daseinsvorsorge ergänzt. Individuelle Freiheitsrechte in Verbindung mit der Sicherung einer materiellen Grundversorgung schienen für einige Jahrzehnte die besten Organisationsprinzipien moderner Gesellschaften. Zwei Entwicklungstendenzen stellen diese Auffassung mittlerweile in Frage. Auf der einen Seite bringen gruppenspezifische Moralvorstellungen und Ideologien, Immigrationsbewegungen sowie nationale Separationsbestrebungen die Schutzfunktion liberaler Bürgerrechte in Gefahr. Selbst ein Minimalprogramm individueller Grundrechte ist auf ein gemeinsames kulturelles Hintergrundverständnis angewiesen, das unter der Dynamik und Mobilität der heutigen Sozialbeziehungen auseinanderzubrechen droht. Auf der anderen Seite wird die öffentliche Daseinsvorsorge zunehmend gefährdet. Das Sozialnetz vieler westlicher Staaten hält den Belastungen kaum noch stand, neue Versicherungs- und Verteilungsformen müssen gesucht werden. Das Sozialstaatsprinzip als Ergänzung zu den liberalen Abwehrrechten wird aber auch ideologisch in Frage gestellt.

Diese Entwicklungen verdeutlichen den fortbestehenden Bedarf nach einer sowohl grundsätzlichen als auch problembezogenen Legitimation liberaler Theorie und Praxis. Ein wichtiger Wendepunkt in der ,Liberalismus-Debatte, war dabei die Renaissance der vertragstheoretischen Tradition, zu der das Erscheinen von John Rawls' Theorie der Gerechtigkeit wesentlich beigetragen hat. Die Aufsätze in dem vorliegenden Heft knüpfen in ihrer Erörterung der Probleme des Liberalismus an die Konzeption und die Vorschläge von Rawls an.

Arthur Ripstein schildert den Hauptkonflikt: völlige staatliche Neutralität gegenüber individuellen Lebensstilen ist auch mit einer liberalen Gesellschaftsordnung nicht vereinbar, sogenannte 'vernünftige' Grundgüter können jedoch nicht, wie Rawls meint, unkontrovers vorausgesetzt werden. Nach Ripsteins Auffassung müssen gemeinsame Lebenskonzepte politisch ausgehandelt werden. Kenneth Baynes legt die Schwierigkeiten dar, in die Rawls seiner Meinung nach gerät, wenn er seine Vorschlage (wie ein berühmter Titel lautet) als "politisch, nicht metaphysisch" versteht: Kants transzendentale Philosophie soll durch Alltagsintuitionen ersetzt werden. Aber ist das wirklich eine Alternative zum rationalen Selbstinteresse der Hobbesschen Tradition? Will Kymlicka zieht die "offensichtliche Lektion" in Zweifel, welche die Religionskriege nach Rawls dem Liberalismus erteilt haben, wonach politische Toleranz von persönlichen Werten gleichzeitig abgekoppelt und doch vorrangig sein soll. Fundamentalistische Minoritäten innerhalb der liberalen Kultur selbst führen diese Überlegung jedoch ad absurdum. Das Toleranzideal muß mit der Lebensführung kongruent sein, die strikte Trennung des Politischen und Persönlichen bleibt unrealisierbar. Michael Milde widmet sich einer der sozialpolitisch wichtigsten Ralwsschen Thesen, wonach individuelle Talente und Fähigkeiten nicht dem einzelnen, sondern der Gemeinschaft zugehören. Milde zeichnet den Gegensatz nach, in den Rawls zur empirisch-hobbesianischen Position gerät. Die sozialkonstitutiven Voraussetzungen für persönliche Fähigkeiten stützen nach Milde aber die Rawlssche Auffassung. Sharon Lloyd setzt bei dem Vorwurf der Kommunitaristen an, daß Rawls in seinem Vertragsansatz die Fiktion eines aus allen Gemeinschaftsbezügen herausgelösten Individuums verwende. Lloyd setzt diesem Einwand eine Analyse der Metapher des "auf Distanz Gehens" entgegen. Im Ergebnis will sie zeigen, daß Rawls diese Kontroverse für sich entschieden hat. Beate Rössler geht von dem Faktum aus, daß die Befreiung der Frau in der liberalen Gesellschaft formal bleibt und keine Befreiung von den traditionellen Sozialrollen bedeutet: ihre rechtliche Gleichstellung wird durch die soziale, vor allem berufliche Realität wieder neutralisiert. Rössler argumentiert, daß es gerade die strikte liberalistische Trennung zwischen Öffentlichem und Privatem ist, die dazu führt, daß der formal gleichen Freiheit ein real ungleicher Wert der Freiheit gegenübersteht. Diese Tatsache wird weder von den Vetretern des Liberalismus noch von seinen Kritikern angemessen berücksichtigt. Rawls selbst schneidet noch am besten ab, da die Ursituation zumindest ein Argumentationspotential zur Verfügung stellt, mit der das Problem der Gerechtigkeit zwischen Männern und Frauen und damit auch das problematische Verhältnis zwischen Privatem und Öffentlichem thematisiert werden kann.

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Table of Contents

Title: Liberal Justification and the Limits of Neutrality
Author: Arthur Ripstein
Page: 3-18

Abstract: This paper examines a style of political justification prominent in contemporary liberalism, according to which policies are legitimate only if they can be shown to be acceptable to all. Although this approach is often associated with neutrality about the good life, it is argued that liberalism cannot be neutral about questions of the role of various goods, such as work, play and community. The paper closes by exploring the implications and applicability of this account of justification to contemporary political practice.

Title: Constructivism and Practical Reason in Rawls
Author: Kenneth Baynes
Page: 18-32

Reason must in all its undertakings subject itself to criticism; should it limit freedom of criticism by any prohibitions, it must harm itself, drawing upon itself a damaging suspicion ... Reason depends on this freedom for its very existence. For reason has no dictatorial authority; its verdict is always simply the agreement of free citizens, of whom each one must be permitted to express, without let or hindrance, his objection or even his veto. I. Kant, Critique of Pure Reason (A738/B766)

Abstract: This essay argues that Rawls's recent constructivist approach waivers between a relativist defense and a more Kantian account which grounds his conception of justice in the idea of an agreement between free and equal moral persons. It is suggested that this ambiguity lies at the center of his attempt to provide a "political not metaphysical" account which is also not "political in the wrong way".

Title: Two Models of Pluralism and Tolerance
Author: Will Kymlicka
Page: 33-56

Abstract: In his most recent work, John Rawls argues that political theory must recognize and accomodate the 'fact of pluralism', including the fact of religious diversity. He believes that the liberal commitment to individual rights provides the only feasible model for accomodating religious pluralism. In this paper, I discuss a second form of tolerance, based on group rights rather than individual rights. Drawing on historical examples, I argue that this is also a feasable model for accomodating religious pluralism. While both models ensure tolerance between groups, only the former tolerates individual dissent within groups. To defend the individual rights model, therefore, liberals must appeal not only to the fact of social pluralism, but also to the value of individual autonomy. This may require abandoning Rawl's belief that liberalism can and should be defended on purely 'political', rather than 'comprehensive' grounds.

Title: Stepping Back
Author: Sharon A. Lloyd
Page: 72-85

Abstract: Although Rawls insists that his argument for his theory of justice neither addresses nor requires that we settle in advance any of the deep questions of philosophy, there are nonetheless more subtle ways in which his work may bear on such questions. The article explores how Rawls's work may advance our thinking on the general philosophical question of how language affects thought, by enabling us to assess the conceptual consequences of two alternative metaphors for describing our activity when we engage in critical self-reflection. The effects on our thinking of our common use of the metaphor of 'stepping back' to describe this activity are contrasted with those of an alternative metaphor suggested by Rawls's work. The resulting conclusions are then employed to illuminate Rawl's reply to an interesting objection to his theory raised by Michael Sandel.

Title: Der ungleiche Wert der Freiheit. Aspekte feministischer Kritik am Liberalismus und Kommunitarismus
Author: Beate Rössler
Page: 86-113

Abstract: Starting from the given societal fact of an unequal ,worth of freedom, for men and women in pursuing possible plans of life, and the assumption that this difference is due to the distinction between the private and public realm, the author investigates into the gender-structure of recent political theories. Following the lines of the debate between communitarians and liberals she argues for the thesis that while communitarians try to ,privatize, the public sphere on the model of the ideal family or given traditions of communities and thus cannot account for the idea of emancipation from given structures and roles, liberals have to ,publicize, the private in order to give substance to the idea of an ,equal worth of freedom, for men and women. Thus, liberalism has to rethink the theoretical distinction of the private and the public sphere and its practical consequences.