Analyse & Kritik

Journal of Philosophy and Social Theory

ohne Titel


1988 (10) Issue 1

Editorial

ANALYSE & KRITIK erscheint jetzt im zehnten Jahrgang. Die Gründung dieser Zeitschrift war an dem Ziel orientiert, den Dialog zwischen zwei wissenschaftlichen Traditionen zu fördern: zwischen der analytischen Philosophie und Wissenschaftstheorie einerseits und einer der kritischen Aufklärung verpflichteten Sozialwissenschaft andererseits. Ausgangspunkt war die Beobachtung, daß die Entwicklung der Sozialwissenschaften vor allem im deutschen Sprachraum im Anschluß an den spektakulären, aber sachlich unergiebigen "Positivismusstreit" stagnierte. Einsichten und Instrumente der analytischen Philosophie und Wissenschaftstheorie wurden nur zögernd genutzt. Aber auch die analytische Philosophie hatte sich noch nicht vollständig von alten positivistischen Dogmen gelöst und befaßte sich deshalb nur begrenzt und unter Vorbehalten mit sozialwissenschaftlichen, politischen oder ethischen Themen. Vor allem der von einer "kritischen" Sozialwissenschaft programmatisch vertretene normative Anspruch erschien lange Zeit als wissenschaftlich unhaltbar und ideologisch verdächtig.

Die Erwartung bei der Gründung dieser Zeitschrift, daß ein interdisziplinärer Austausch zwischen diesen beiden Wissenschaftstraditionen von Nutzen sein könnte, wurde durch die nachfolgende Entwicklung sowohl innerhalb der analytischen Philosophie als auch in den Sozialwissenschaften zumindest teilweise bestätigt. Sozialwissenschaftlich relevante Fragestellungen sind verstärkt zu Gegenständen philosophischer und wissenschaftstheoretischer Analysen geworden. Nicht nur ist die Klärung von Grundbegriffen wie "Handlung", "Institution", "Norm", "Verstehen", "Lebensform" oder "Kultur" in den Mittelpunkt zahlreicher Debatten gerückt, auch werden die Sozialwissenschaften als eigenständiger Wissenschaftsbereich zunehmend ernst genommen. Die vielleicht auffälligste Veränderung besteht aber darin, daß der Bannstrahl, mit dem die positivistische Orthodoxie die wissenschaftliche Behandlung moralischer Fragen belegt hatte, mittlerweile endgültig aufgehoben wurde und eine normative Ethik sich zu einer prosperierenden Disziplin entwickeln konnte. Die unter dem Einfluß von John Rawls zunächst vor allem auf soziale Gerechtigkeit konzentrierte Diskussion hat inzwischen in Form einer umfassenden angewandten Ethik vielfältige Bereiche des Alltags und der Gesellschaft erfaßt.

Die interdisziplinäre Ausrichtung von ANALYSE & KRITIK bedeutet vor allem auch Internationalität. Das vorliegende Heft macht dies besonders deutlich: Es enthält nur englischsprachige Beiträge. Damit wird allerdings auch ein Problem für das Programm dieser Zeitschrift deutlich. Der Markt für Beiträge, die seiner Zielsetzung entsprechen, ist in den angelsächsischen Ländern noch immer ungleich größer als bei uns. Daß sich dieses Ungleichgewicht etwas verringert, ist deshalb eine der Hoffnungen, die wir für die Zukunft haben.

Die Gründung und Herausgabe einer wissenschaftlichen Zeitschrift hat immer mit zahlreichen Schwierigkeiten ökonomischer und nicht ökonomischer Art zu kämpfen. Wir möchten deshalb dem Westdeutschen Verlag für seine langjährige Unterstützung nachdrücklich danken. Unser ganz besonderer Dank gilt in diesem Zusammenhang Herrn Manfred Müller, der nicht nur ein immer zuverlässiger und fairer Partner war, sondern uns auch neuen Mut gemacht hat, wenn das einmal nötig wurde.

Die Beiträge in dem vorliegenden Heft gehören zu einem der programmatischen Schwerpunkte von ANALYSE & KRITIK: der systematischen Klärung sozialwissenschaftlich relevanter Begriffe. Thomas E. Wartenberg erörtert in seinem Beitrag den Begriff der "sozialen Macht". Nach seinem Definitionsvorschlag besteht Macht in der Möglichkeit, das Handlungsumfeld einer Person in fundamentaler Weise kontrollieren zu können. Wartenberg zeigt, wie sich die Bedeutung verwandter Begriffe wie "Gewalt", "Zwang", "Einfluß" oder "Manipulation" auf der Grundlage dieser Definition sinnvoll präzisieren läßt. Matti Häyry und Timo Airaksinen knüpfen in ihrem Aufsatz an die Untersuchung Wartenbergs an und führen sie in einem speziellen Punkt weiter. Sie analysieren die unterschiedlichen Aspekte, in denen Drohungen und - überraschenderweise - auch spezielle Arten von Angeboten die Handlungsfreiheit eines Adressaten einschränken können.

Soziales und kollektives Handeln sind ebenso wie Macht Gegenstände, die zweifellos im Zentrum sozialwissenschaftlicher Theoriebildung stehen. Aber auch hier können die entsprechenden Begriffe nur vordergründig als geklärt gelten. Das zeigt sich an dem Versuch Robert Wares, eine Typologie sozialen Handelns zu entwickeln und mit verschiedenen Arten von sozialen Kollektiven in Beziehung zu setzen. Ware verwirft in diesem Zusammenhang den reduktionistischen Anspruch des "methodologischen Individualismus", alle sozialen Phänomene und Entitäten durch individuelles Handeln erklären zu wollen.

Gefühle spielen in sozialwissenschaftlichen Theorien nur eine untergeordnete Rolle. Besonders unter dem Einfluß von Max Weber, der in einem fortschreitenden Rationalisierungsprozeß den dominierenden Wesenszug der modernen Gesellschaft sieht, schienen Gefühle als "affektueller Rest" soziologisch vernachlässigbar. Diese verbreitete wie einseitige Entwertung von Gefühlen kann der Verschiedenartigkeit und Bedeutung von Gefühlen für das menschliche Handeln aber nicht gerecht werden. Der Beitrag von Daniel M. Farrell zeigt in einem Überblick, daß in der angelsächsischen Philosophie dagegen verzweigte und kontroverse Diskussionen über Gefühle existieren. Der Detailreichtum dieser Analysen wird auch durch eine ausführliche Bibliographie belegt, die Sozialwissenschaftlern hierzulande den Zugang erleichtern soll.

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Table of Contents

Title: The Forms of Power
Author: Thomas E. Wartenberg
Page: 3-31

Abstract: The question of how to define the concept of social power has been a focus of controversy among social theorists. In this paper, I put forward a definition of social power that avoids many of the pitfalls of previous attempts at such a definition. Roughly, I define the power which one agent has over another as the ability that the dominant agent has to control the situation within which the subservient agent acts. Using this basic definition of power, I go on to define many of the central forms in which power actually exists, forms that are conceptualized by such concepts as force, coercion, and influence. I show that these different forms of power can all be understood as specifications of the generic definition of power that I offered and go on to develop an account of how they function in relation to one another in actual relationship of social power.

Title: Elements of Constraint
Author: Matti Häyry / Timo Airaksinen
Page: 32-47

Abstract: This paper analyses the various effects of threats and offers on freedom. Both threats and offers are related to social power. Threats are part of coercion and they are constraints. We try to say why this is so. Offers are more problematic. We identify soft and hard offers, or offers that can be refused and those that cannot. Hard offers have several interesting features, especially in relation to individual preference orders and sets of action alternatives. This paper studies problems which are implicit in Thomas Wartenberg's study of the various forms of social power in this issue of ANALYSE & KRITIK.

Title: Group Action and Social Ontology
Author: Robert Ware
Page: 48-70

Abstract: In recent years there has been an interesting turn in the philosophical literature to groups and collective action. At the same time there has been a renewed interest in various forms of methodological individualism. This paper attempts to show the diversity of group action that is overlooked by much of the literature, to clarify some of the ambiguities that plague our language about groups and collectives, and to support the view that social entities are genuine. Some important arguments against social entities being genuine are rebutted. The existence of social entities gives some substance to the debate about methodological individualism, but the resolution of the debate has depended too much on empirical results in the distant future. The article ends with some suggestions on how the debate matters in looking for biases in the directions of current social theorizing.

Title: Recent Work on the Emotions
Author: Daniel M. Farrell
Page: 71-102

Abstract: In this paper I review recent philosophical work in English on the nature of emotion. I begin with the well-known attacks of Bedford, Kenny and Pitcher on what I call the traditional (i. e., Cartesian) view of the nature of emotion. I then trace and discuss the successive alternative views that have been developed in the past thirty years. My aim is both to review the development of these alternative views and to indicate what particular problems have come to be considered the central problems in this area. A comprehensive bibliography of recent work in English is appended.