Analyse & Kritik

Journal of Philosophy and Social Theory

ohne Titel


1982 (4) Issue 1

Editorial

Die Wissenschaftstheorie des 20. Jahrhunderts war über längere Zeit von der Vorstellung besessen, es gäbe nur eine dem Menschen eigene Vernunft, wie sie durch die modernen Naturwissenschaften, insbesondere die Physik, verkörpert wird. Für die Sozialwissenschaften hatte das die Konsequenzen, daß sie nur in dem Maße ernst genommen wurden, wie sie diesem Ideal nahekamen. Die Ökonomie war demzufolge die "exakteste" und "fortgeschrittenste" ihrer Disziplinen. Dabei scheint ihr zugute zu kommen, daß ihre Gründungsväter im 18. Jahrhundert ähnlich dachten wie die modernen Wissenschaftstheoretiker und in Newtons Mechanik das Vorbild ihrer neuen Wissenschaft sahen. Soweit sie selbst erkenntnistheoretische Empiristen waren oder sich am Empirismus von Locke und Hume orientierten, verteidigten sie dieselbe Position wie im 20. Jahrhundert die Logischen Positivisten: daß wissenschaftliche Erkenntnis in der Kombination der Beobachtung von Gesetzmäßigkeiten und einem logisch-mathematischen Instrumentarium besteht. Eine Diskussion zwischen modernen Ökonomen und modernen Wissenschaftstheoretikern ist deshalb - vielleicht entgegen dem ersten Anschein - kein Treffen zwischen Fremden, sondern das von mehrfachen Urenkeln gleicher Eltern, des Empirismus und der klassischen politischen Ökonomie. Beide Disziplinen bildeten im 18. Jahrhundert insofern eine Einheit, als der empiristische Vernunftbegriff einherging mit einem von ihm angeleiteten Begriff der Handlungsrationalität und auf der Grundlage beider eine umfassende Theorie der Gesellschaft, insbesondere der Ökonomie und Politik, ausgebildet wurde. Die anschließende Differenzierung der Fächer hat diese Einheit zerbrochen und die ursprüngliche Allianz von erkenntnis- und handlungstheoretischem Vernunftbegriff verdeckt. Sie hatte darin bestanden, daß auf der einen Seite beispielhaft Hume ethische Urteile als vernunftszugängig ausschloß, während auf der anderen Seite beispielhaft Adam Smith die Handlungsrationalität des ökonomischen Akteurs mit einem den Individuen naturmäßig eingebauten "ewigen Streben nach Verbesserung der Lebensumstände" identifizierte. Beide Begriffe haben sich seither nicht grundlegend gewandelt. Sicher hat auf Seiten der Wissenschaftstheorie insbesondere die Eigenbewegung des Logischen Positivismus die Einsicht gezeitigt, daß die Locke-Humesche Annahme, wissenschaftliche Theorien zerfielen in empirische und logisch-mathematische Sätze, unhaltbar war. Daß es "theoretische" Grundbegriffe gibt, welche die durch empirische Überprüfung uneinholbare "Vision" einer Theorie festlegen, ändert aber nichts an der Beschränkung des Vernunftbegriffs auf logisch-empirische Erkenntnis im Unterschied zu normativen Urteilen. Und sicher hat auf Seiten der Ökonomie die Figur des homo oeconomicus die methodische Absicherung als idealisierendes Postulat und zahlreiche realitätsbemühte Modifikationen erfahren. Aber auch dies hat nicht grundsätzlich am Selbstverständnis der Ökonomie als empirischer Wissenschaft gerüttelt.

Die in ihrem gemeinsamen historischen Ursprung begründete Ähnlichkeit der Wissenschaftsauffassung hat den wechselseitigen Zugang zueinander zwischen moderner Ökonomie und Wissenschaftstheorie, vermittelt zumal über stark formalisierte Disziplinen wie die Entscheidungs- und Spieltheorie, gewiß erleichtert. Sie birgt aber auch die Gefahr einer vorgängig entschiedenen Beschränkung auf die bloß logische und begriffliche Präzisierung und Differenzierung von Theorien gemäß selbst der Diskussion entzogener Kriterien wissenschaftlicher Objektivität. Diese Kriterien einer Überprüfung zu unterziehen mag es hilfreich sein, die ursprüngliche Einheit von vernünftigem Erkennen und rationalem Handeln zu vergegenwärtigen, weil aus ihr heraus wechselseitige Begründungsmöglichkeiten zugänglich und damit kritisierbar werden. Die Teile der ursprünglichen Einheit von vernünftigem Erkennen und Handeln mit heutigen Mitteln wieder zusammenzufügen, könnte deshalb das tiefere Interesse einer interdisziplinären Diskussion sein, wie sie mit den Beiträgen dieses Hefts begonnen wird. In ihm werden Diskussionen geführt, die unserer herrschenden Disziplinentrennung zufolge an völlig verschiedenen Schauplätzen stattfinden, aber über das Erbe des modernen Vernunft- und Handlungsbegriffs der Sache nach eng zusammenhängen.

Von allen Sozialwissenschaften hat die Ökonomie dieses Erbe am umfangreichsten in sich aufgenommen, denn nicht nur macht sie Wertfreiheit wie andere Disziplinen auch zur Bedingung wissenschaftlicher Objektivität, sondern erhebt darüber hinaus ökonomisches geradezu zum Inbegriff rationalen Handelns. Kritische Anstöße zur Überprüfung des üblichen Selbstverständnisses sind deshalb aus Zusammenhängen zu erwarten, in denen dieser klassische Dualismus fragwürdig wird. Die Beiträge zum manifesten normativen Gehalt in ökonomischen Theorien (Samuels, Keita), zur Möglichkeit und Berechtigung einer politischen Ökonomie (Cogoy) und zur empiriegerechteren Fassung des Hobbesschen Akteurs (Kliemt / Schauenberg) bieten Anschauungsmaterial für solche Anstöße. Daß die in ihnen gegebenen oder angedeuteten Lösungsvorschläge vielleicht nicht jeden überzeugen, mag daran liegen, daß sie sich (mit Ausnahme von Cogoy) die Idee der Objektivität durch Wertfreiheit zur Auflage machen und deshalb nur begrenzte Korrekturen vornehmen können. Die in diesem Heft beginnende "Rorty-Diskussion" hat zwar vorrangig das Selbstverständnis der neuzeitlichen Philosophie, speziell der analytischen Philosophie, zum Gegenstand, aber sie könnte gerade auch Licht auf den so ausgesparten Teil des Vernunftbegriffs werden. R. Rorty hat (in seinem Buch "Philosophy and The Mirror of Nature") zu zeigen versucht, daß das cartesianische Verständnis von Philosophie als Erkenntnistheorie und des Menschen als eines "Spiegels der Natur" auch die analytische Philosophie in ihren Bann schlagen konnte, obwohl gerade diese philosophische Bewegung die Mittel bereitgestellt hat, sich dieses Banns zu entledigen. Ihm zufolge ist die analytische Philosophie von einem tiefen Widerspruch gezeichnet, insofern sie sich institutionell in der cartesianisch-kantischen Tradition als eigenständige Disziplin der Erkenntnistheorie neben den Wissenschaften behaupten will, während sie auf der Ebene ihrer Theoriebildung gerade diese Tradition vernichtend kritisiert hat. In seinem Aufsatz zur Geschichte und gegenwärtigen Situation der Philosophie in Amerika (ANALYSE & KRITIK 1 / 81) illustriert Rorty dieses Argument an den Folgen des Zusammenbruchs des in den USA importierten Logischen Positivismus. Die Diskussion von Rortys provokativen Thesen verspricht aufgrund der Verbreitung des Abbildmodells der Erkenntnis auch in den Sozialwissenschaften neben Konsequenzen für die analytische Philosophie im engeren Sinn und neben der Erhellung des interdisziplinären Verhältnisses von Philosophie und Wissenschaften (als ein zentraler Programmpunkt dieser Zeitschrift) insbesondere auch eine Ergänzung bei der Kontroverse um die Idee wissenschaftlicher Objektivität.

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Table of Contents

Title: A Critique of the Discursive Systems and Foundation Concepts of Distribution Analysis
Author: Warren J. Samuels
Page: 4-21

Abstract: Productivity and exploitation theories of distribution are identified as alternative discursive systems. Both are shown to have analytic and interpretive strengths but also to be relative vis-a-vis the bases by which conclusions in terms of exploitation and productivity, respectively, are reached and stated. A third, nonideological (and therefore less emotionally satisfying) alternative mode of discourse is suggested: appropriation theory, focussing on power and inequality but without normative judgment. The work of Max Weber is used to illustrate appropriation theory.

Title: Economic Theory, Ideal Types, and Rationality
Author: Lansana Keita
Page: 22-38

Abstract: Contemporary economic theory is generally regarded as a scientific or at least potentially so. The replacing of the cardinal theory of utility measurement by the ordinal theory was supposed to prepare the groundwork for economics as a genuine science. But in adopting the ordinal approach, theorists saw fit to anchor ordinal theory to axioms of choice founded on principles of rational behavior. Behavior according to these axioms was embodied in the ideal type model of rational economic man. This model served the basis for scientific explanation of the choices made by actual economic agents. I argue though that the postulate of rationality is a normative principle and that this compromises the scientific pretensions of economic theory. Yet the theorist must rely on this principle to formulate predictive and explanatory theories. This raises questions as to whether it is possible that economic theory satisfy the same kind of scientific criteria set down for research in the natural sciences.

Title: Produktion, Markt und technischer Fortschritt
Author: Mario Cogoy
Page: 39-70

Abstract: The following article proposes a change of perspective in the capital-theory debate of political economy. Instead of insisting upon the differences between a Marxian labour theory of value and a Ricardo Sraffaian theory of prices of production (Marx versus Sraffa) the common basis of the two approaches is stressed. The common basis consists in the paradigm of duality between physical quantities and evaluation standards. The last part of the paper collects sceptical arguments concerning the question of whether the duality paradigm can provide an adequate approach to an analysis of modern technical change.

Title: Zu M. Taylors Analysen des Gefangenendilemmas
Author: Hartmut Kliemt / Bernd Schauenberg
Page: 71-97

Abstract: The theory of garnes, though at first greeted with great expectations by some social scientists, soon became a source of frustrated hopes to many of them. Too much of the theory seemed to be devoted to "zero-sum" and "one-shot" games. But most social contexts are not zero-sum and involve repeated interaction too. There was a certain lack of such game theoretic models which could be successfully adapted to social phenomena as were apt to appear in reality. Recently the theory of games seems to be on its way to closing this gap within a special branch devoted to "repeated games" or "supergames". Very promising is the approach of Michael Taylor which is surveyed and discussed in the subsequent paper. This approach has two main merits: First it can be understood with a modest mathematical background, secondly it can be adapted easily to a more precise reconstruction of classical topics in political theory. Though one might not agree with some of Taylor's conclusions it seems to be worthwhile to get acquainted at least with the basics of his analysis and to take it as a first step to opening avenues for future social research.

Title: Wisdom and Analytical Philosophy
Author: Jonathan Bennet
Page: 98-101

Abstract: Rorty's profound and challenging critique of contemporary philosophy is in several ways somewhat unfair. Analytic philosophy can contribute towards 'wisdom' in a reasonable sense of the term, though not in Rorty's narrow sense; and his contrast between 'sophist' and 'sage', with the latter understood in Plato's way, is also too constricting. Also, some contemporary 'analytic' work in the 'history of philosophy', so called, is not invalidated by Rorty's strictures - especially his implied accusation that we shan't be interested in the intellectual past if we can't look down on it.

Title: Philosophy and its History
Author: Alasdair MacIntyre
Page: 102-113

Abstract: Richard Rorty argues that the present state of analytic Philosophy is the result of the collapse of the logical empiricist program. But most of the characteristics of analytic philosophy which Rorty ascribes to that collapse predated logical empiricism. The historical explanation of the present state of philosophy must begin not later than with the schism between philosophy and the other disciplines in the seventeenth and eighteenth centuries. To begin then leads to a different view of how philosophical problems are generated.

Title: Philosophy's Self-Image
Author: Jay F. Rosenberg
Page: 114-128

Abstract: Rorty rejects the idea of a "permanent and neutral matrix of Heuristic concepts". The claim of privilege, however, is separable from the aim of universality, and this idea can be transposed into a regulative ideal, while still preserving the unique intellectual mission of a discipline of philosophy. Rorty's own positive picture of "edifying Philosophy" in contrast is arguably irresponsible and grounded in misreadings both of the epistemology of science and of episodes in the history of philosophy, especially the contributions of Kant.